Rote Nacht

Nur die kleine Tischlampe brennt. Ihre Strahlen reichen gerade bis zu Velvets Schulter. Still sitzt sie am Fenster und schaut hinaus in die Nacht eines Samstages. Ihr verlorener Blick liegt auf einem Meer von launenhaften, unruhigen Lichtern. Den Lichtern einer fremden Großstadt. Es regnet sanft, die Tropfen auf der Scheibe rühren die blassen Farben zu einer Einheit. Formen und Umrisse verwischen. Sie erkennt kein Bild, sie fühlt nur ein Muster. Mehr will sie nicht. Sie will nicht abgelenkt werden von ihren Zweifeln, die sie heimsuchen, wenn sie alleine ist. Im Dunkel der Wohnung. Im Dunkel der Nacht. Alleine im Leben.

Die Räume sind lautlos wie sie lichtlos sind. Nur gedämpft und leise dringen die Geräusche der Außenwelt hinein.

In den dumpfen Ton der Monotonie mischt sich das scharfe Rasseln von Schlüsseln.

Dante schließt die Haustür auf und kommt herein. Seine Schritte sind träge. Der Ausdruck im Gesicht ohne Freude.

Es ist nicht lange her, dass sie sich das Jawort gegeben haben. Doch die Last des Zusammenlebens drückt sie beide im zweiten Jahr ihrer Ehe zu Boden.

Er schaltet das Licht im Flur ein. Sie weiß es vielleicht nicht, wie sollte sie auch, er hat es ihr nie gesagt. Doch er hasst es wie kaum etwas anderes, heimzukommen und in die Dunkelheit zu stürzen.

Sie spürt die Legionen an Lichtteilchen auf ihrem Rücken. Er ist da. Er ist heimgekehrt zu ihr. Doch wie lange noch? Wie lange, bis er die Treppen hochsteigt, den Schlüssel in die Haustür steckt, dann einen Moment stockt und ihn lautlos wieder herauszieht? Wie lange, bis die Schritte im Treppenhaus leiser werden und schließlich gänzlich verklingen? Bis sie in der Stille ihrer kleinen und kleinsten Welt ertrinkt?

Dante erreicht in weichen Schritten das Wohnzimmer und entdeckt sie vor dem Fenster. Sie rührt sich nicht. Hat sie ihn nicht reinkommen hören? Natürlich hat sie das.

Sie schaut zu ihm her. Er liest Müdigkeit in den geröteten Augen. Immer öfter muss er sich fragen, ob es wohl die Lebensmüdigkeit ist.

»Es regnet.«

Er verharrt in der Absicht, den nassen Mantel auszuziehen. Was soll er ihr darauf sagen? Was will sie hören?

»Ich weiß«, sagt er ruhig.

Enttäuscht wendet sie den Blick ab und gibt sich dem Regen hin, der ihr ein besserer Zuhörer ist.

Er nimmt die unterbrochene Bewegung wieder auf und befreit sich vom Mantel. Der Stuhl kommt ihm gelegen. Er legt den Mantel über die Lehne, die Lache auf dem Boden beachtet er nicht. Was er braucht, ist Ruhe. Doch die Ruhe in diesem Haus zermürbt ihn. Die Wohnung ist zu kalt, zu groß. Ihre Größe war sinnvoll, als noch ein Kinderwunsch in der Luft hing.

Er setzt sich auf die Couch, dorthin, wo das Licht ihn nicht erreicht. Den schweren Kopf legt er in den Nacken und schließt die Augen. Vielleicht, so seine Hoffnung, lässt sie ihm heute den Frieden.

Jäh brechen die Worte aus ihr heraus, ihre Züge sind gequält.

»Wo warst du?«

Ruhig schaut er sie an. Er muss Ruhe bewahren und hoffen, dass sie auf seine Frau überspringt.

»Ich bin kaum über die Schwelle, und du überfährst mich.«

Wann hörst du damit auf, Velvet? Ich kann dir nicht sagen, wo ich war.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, kehrt sie den wütenden Blick zurück zum Fenster. In ihrem Gesicht spiegelt sich die Bahn der Tropfen wider. Der Regen weint für sie, legt sich wie Balsam auf ihre Seele.

Er steht von seinem Platz auf und muss wieder innehalten, als sie ihn anfaucht.

»Ich will schlafen!«

Es ist ihre Art, diese fordernde Art.

»Ich bin gleich da«, sagt er ohne warme Gefühle in der Stimme.

Er begibt sich in das Badezimmer, dreht den Wasserhahn mit geschlossener Hand auf und hält die Hände unter den Strahl. Im Spiegel sieht er die dreißigjährige Hülle und den greisen Geist darin. Wo ist das Lachen nur hin? Kehrt es je wieder zurück?

Sie hört das fließende Wasser. Sie hört das Prasseln an der Scheibe. In vollkommener Harmonie singen sie eine gemeinsame Melodie. Alles könnte ein Lied sein. Was läuft nur schief?

Er drückt den Lichtschalter im Wohnzimmer und zwingt sie, sich der Helligkeit zu stellen. Es ist ihr unangenehm. Sie hört ihn nahen. Fühlt, wie seine Hände den Rollstuhl fassen und ihn zurückziehen. Bis er eine Stelle erreicht, die genug Raum für eine Drehung in die entgegengesetzte Richtung bietet.

Er führt Velvet in das dunkle Schlafzimmer. Beide spüren eine Kälte, die von innen kommt.

Er schaltet das Licht ein und bringt den Rollstuhl neben dem Bett zum Stehen.

Die Armbanduhr. Sie ist schon lange stehengeblieben, doch irgendwie fällt es ihm schwer, sich von ihr zu trennen. Sie war ein Geschenk von ihr aus Tagen, die eine Ewigkeit zurückzuliegen scheinen. Aus Tagen vor dem Unfall. Er streift sie ab und legt sie auf den Nachttisch. Auch die Tischlampe schaltet er ein. Dann greifen seine Hände hinter ihren Rücken und unter ihre Beine. Er hievt sie hoch aus dem Stuhl und hasst sich für den Gedanken, dass dies ihm immer schwerer fällt.

Er weiß, dass sie ihn die ganze Zeit über ansieht. Und sie weiß, dass er absichtlich wegschaut.

»Wie heißt sie?«

Er ignoriert die Frage, die keine ist, und legt sie behutsam aufs Bett. Da ist Widerstand in ihr. Widerstand, sich von seiner Berührung loszusagen.

»Genüge ich nicht mehr?«

Er meidet ihren starren Blick, während er sie aus dem Morgenmantel schält.

»Ich warne dich, Dante. Glaube nicht, dass ich schwach bin. Wenn ich je herausfinde, dass du … wenn ich das jemals herausfinde …«

Er hört nicht hin und deckt sie zu, zieht die Decke über ihren Mund. Und bringt sie tatsächlich zum Schweigen.

*

 

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