Krispin

Noah hebelt den Orangefuchsigen Raukopf aus dem regennassen Boden und säubert ihn oberflächlich von Schmutz und Erde. Anschließend nimmt er eine Geruchsprobe und mustert seine rostrotbraune Farbgebung im Licht des beginnenden Frühabends. Dann wandert der Pilz in den Korb zu den übrigen Artgenossen. Er hat genug gesammelt, es ist Zeit für die Heimkehr.

Die Knie des Endzwanzigers schmerzen bereits. So braucht er die Stütze der Eiche, um aus der Hockstellung wieder in den Stand zu kommen. Die Arme weit zur Seite ausgestreckt, reckt er sich genießerisch und setzt damit hinter dem ergiebigen Tag einen Schlusspunkt.

Er kehrt aus dem Dickicht zurück auf den Waldweg und macht nur wenige Schritte, als er etwas hört.

Es war ein kurzes Geräusch. Er blickt sich um, kann jedoch keine Menschenseele entdecken. Seltsam, denkt er. Es klang nach einem Tier, doch er kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. War es ein Tier, so musste es ein größeres gewesen sein, denn der Laut war tief.

Noah beschließt weiterzugehen. Er ist müde. Es besteht die Möglichkeit, dass seine Sinne ihm einen Streich gespielt haben.

Da hört er es wieder.

Nein, es war definitiv kein Hirngespinst. Ebenso wenig war es ein Tier. Es hörte sich vielmehr menschlich an — und aggressiv. Er schaut sich noch einmal um. Soweit er es beurteilen kann, ist er alleine hier in diesem Teil des Waldes.

Erneut dringt dieser seltsame Klang in seine Ohren. Diesmal hält er länger an und gibt Noah die Zeit, ihn zu klassifizieren. Es ist ganz unzweideutig ein Mensch, ein Mann. Der Klang hat nichts Aggressives mehr an sich. Es ist eher ein leises Wimmern. Weint er?

Noah will jetzt seinem angeborenen Wissensdrang nachgeben und herausfinden, woher die Stimme kommt und geht ihr nach.

Es dauert nicht lange, bis er die Quelle der weinerlichen Laute erspäht. Der unbekannte Mann sitzt mit dem Rücken zu Noah auf dem Erdboden, unmittelbar vor einer Eiche, und wippt vor und zurück. Sein Kopf hängt in Brusthöhe. Allem Anschein nach führt der Mann, der im gleichen Alter wie Noah sein dürfte, Selbstgespräche.

Noah überlegt, ob er zu ihm gehen soll. Doch warum soll er sich die Angelegenheiten anderer zu seinen eigenen machen? Er dreht um und entfernt sich leise.

Im gleichen Moment schlägt die Stimme des Unbekannten wieder um und nimmt einen wütenden Klang an. Er speit üble Schimpfwörter aus, schleudert sie gegen den Baum.

Noah bleibt stehen und sieht zu ihm hin. Ist das ein Irrer? Jedenfalls scheint der Mann echte Probleme zu haben.

Obwohl er sich heraushalten wollte, macht Noah nochmals kehrt und geht auf den Problembehafteten zu. Er weiß, dass er dem Mann sicher nicht wird helfen können. Aber ihm seine Hilfe anzubieten, bedeutet, das eigene Gewissen zu beruhigen.

Der Streit, den der Mann mit sich selbst führt, nimmt deutlichere Konturen an. Es geht um Betrug und Trennungsschmerz. Ein uraltes Lied der Menschheit.

Plötzlich fühlt Noah eine seltsame Verbundenheit mit ihm. Denn auch er macht mit seiner Sophia gerade eine stressbeladene Zeit durch, die, da will er sich nichts vormachen, wohl auf ein Liebes-Aus zusteuert.

»Entschuldigen Sie bitte … hallo!«, ruft Noah.

Doch der Unbekannte reagiert nicht. Er wippt vor und zurück und weint wieder. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt, denkt Noah und geht weiter auf ihn zu. Er fühlt eine merkwürdige Schuld, wenn er sich ihm so hinterrücks nähert.

Auf einer Höhe mit dem Sitzenden angekommen, hält Noah einen gebührenden Abstand zu ihm ein.

»Verzeihen Sie, ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen, aber als ich Sie hier sitzen sah, dachte ich, vielleicht kann ich Ihnen— ach, du Scheiße!«

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